Al-Ghazzālī wurde 450/1058 in Tūs geboren. Er ist bekannt unter dem Namen Ḥujjah al-Islam (Die Autorität des Islams). Zuweilen wird er aber auch Zayn ad-dīn (Der Schmuck der Religion) genannt. Sein Vater war jemand, der dem Taṣawwuf (Islamische Mystik) sehr nahestand. Soviel es sein Einkommen ermöglichte, unterstützte er die muslimischen Wissenschaftler finanziell. Er wünschte sich, dass seine beiden Söhne eine gute Ausbildung bekommen und bat hierzu seinen Sufi-Freund sich um sie zu kümmern. Vermutlich lernte al-Ghazzālī das Schreiben, Sprachwissenschaften, Arithmetik und memorierte den Koran durch die Unterstützung dieses Mannes. Es ist dabei wahrscheinlich anzunehmen, dass beide, der Vater und sein jetziger Mentor, welche durch den Taṣawwuf eine vorbildliche Lebenseinstellung hatten, al-Ghazzālī bereits in jungen Jahren für die Zukunft stark formten und zum Taṣawwuf tendieren ließen. Als dem Vater die nötigen Mittel fehlten, empfahl er seinen beiden Söhnen in die Madrasah zu gehen und dort weiter zu lernen.
Al-Ghazzālī lernte in Tūs von dem Gelehrten ar-Rāzkānī die Disziplin des Fiqh (Rechtswissenschaften). Später reiste er nach Gorgan (Djurdjān) und wurde von einem Gelehrten Namens Ismāʿilī unterrichtet. Nach seinem Studium in Fiqh und Ḥadīth kehrte er mit einer Karawane zurück. Diese wurde jedoch während der Fahrt überfallen. Al-Ghazzālī, dessen Notizen aus der Ausbildung in Gorgan ebenfalls enteignet wurden, lief den Wegelagerern hinterher und bat sie um seine Schriften, da diese der einzige Grund gewesen seien, weshalb er diese Reise überhaupt angetreten war. Der Anführer der Bande machte sich insofern lustig über ihn, als er sagte, dass Wissen nicht auf Papier, sondern ins Gedächtnis gehöre. Nachdem al-Ghazzālī seine Blätter zurückbekam, lernte er seine gesammelten Notizen in drei Jahren gänzlich auswendig.
Im Jahr 473 n. H. kam al-Ghazzālī mit einigen Studenten aus Tūs nach Nischapur, um ihr Studium in der Niẓāmīyah Madrasah fortzusetzen. Dort lernte er den berühmten Mutakallim al-Djuwaynī kennen. Er studierte hier in einem durchaus straffen Studium schāfiʿitischen Fiqh, die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Rechtsschulen, Djadal (Diskussion), Logik, Kalām, Falsafah und die Quellen der ʿAqīdah und des Fiqh. Sein eigener Lehrer sagt über ihn
„al-Ghazzālī ist ein tiefes Meer“
Sein Zeitgenosse ʿAbd al-Ghāfir al-Fārisī sagt über ihn:
„Er ist der Beweis (Ḥujjah) des Islams und der Muslime, der Anführer aller religiösen Oberhäupter, eine Persönlichkeit, die hinsichtlich ihrer Fähigkeit sich (präzise) auszudrücken und bzgl. ihres scharfen Verstandes, ihresgleichen suchte.“
Abū ʿAlī al-Farmadī ist es, der al-Ghazzālī in den Taṣawwuf unterweist. Er ist es, der al-Ghazzālī dazu bewegt, Übungen im Taṣawwuf zu praktizieren. Da al-Ghazzālī seinen Lehrer aber nicht immer antreffen konnte und dieser darüber hinaus noch 477/1084 starb, konzentrierte er sich auf Kalām und Falsafah.
Um sein Studium ohne Schwierigkeiten fortzusetzen, begab er sich nach dem Tode seines Lehrers al-Djuwaynī (478/1085) zur Verwaltung Niẓām al-Mulks. Dort wurden nämlich Gelehrten Stipendien ausgeschrieben. Außerdem beabsichtigte al-Ghazzālī von den großen Gelehrten seiner Zeit zu profitieren. Zu jenen Tagen war al-Ghazzālī 28 Jahre alt und hoch geschätzt durch den sunnitisch zu verortenden Wesir. Er hielt viel von ihm und sah möglicherweise in ihm eine große Hoffnung, die Strömung der Bāṭnīyah[2] aufzuhalten. Der noch junge Ghazzālī verbrachte jene sechs Jahre unter der Obhut der größten Gelehrten seiner Zeit und genoss daher eine weitere sehr gute Ausbildung. Er nahm an wissenschaftlichen Diskussionen teil und ging aus ihnen siegreich hervor, weshalb er sich den Titel Imām des Iraks einholte.
Im Jahr 484/1091 wurde er vom Wesir als Dozent an der Niẓāmiyyah Madrasah Bagdads ernannt. In den vier Jahren seiner Amtszeit war er hier im Verfassen seiner vielen Texte besonders produktiv. In seinem Werk al-Munqidh spricht der Großgelehrte von ungefähr 300 Studenten, die er unterrichtet hat und erzählt, dass er sich nebenher auch in der Philosophie vertieft hätte. In den zwei Jahren seiner Forschungstätigkeit gewann al-Ghazzālī tiefere Einblicke in die Philosophien der Maschāʾiyyah (Peripatos) und der Išrāqiyyah (Illumination/Gnosis). In einem Zeitraum von einem Jahr, erfasste er die gesamte zu seiner Zeit vorhandene Philosophie und listet die richtigen und falschen Aussagen der Philosophien auf. Dann hat er angefangen, die Bāṭinīyah zu erforschen. Manche kritisierten ihn dafür, dass er bei der Kritik dieser Strömung ihre Lehren und Prinzipien aufgedeckt habe und dies ihnen gelegen kam. Jedoch wäre dies seinem Wissenschaftsverständnis zuwider gewesen, eine Strömung zwar zu kennen, sie dann aber, ohne sie objektiv zu betrachten, zu kritisieren. In seinem al-Munqidh zählt er als letztes Thema den Taṣawwuf auf.
Nach seinen Forschungen in Kalām, Falsafah, Taṣawwuf und der Bāṭinīyah war seine innere Welt, sein Geist erschüttert und führte schließlich zur Depression. In der Niẓāmīyah Madrasah in Bagdad erreichte er solches Ansehen und solchen Ruhm, dass er fast schon berühmter und geschätzter war, als die Anführer des Landes. Äußerlich betrachtet scheint der große Lehrer sehr erfolgreich und zufrieden zu sein, wo er in Wahrheit innerlich mit lauter Zweifeln und Depressionen kämpfte. Schließlich erklärte er auch, dass er in seinen jungen Jahren immer auf der Suche nach der Wahrheit war. Vermutlich haben sein wissenschaftlicher Erfolg und sein Ruhm die Neigung zum Zweifel zeitweise zugedeckt, jedoch wurde diese durch das Fundament des Taṣawwuf, das ihm in jungen Jahren gelegt wurde, ein weiteres Mal, jedoch stärker, hervorgerufen. Seinen Aussagen zufolge hatte er nicht nur Zweifel an der Metaphysik und irgendwelchen wissenschaftlichen Problemen, sondern stellte er sich auch moralisch zur Rede. Er begriff, dass die eigentlich schönste Beschäftigung, nämlich das Lernen und das Lehren, unwichtig waren und dass er sich mit manchem Wissen belastete, das nicht einmal einen Nutzen für die Reise ins Jenseits hatte. Auch wenn er oft schon plante Bagdad zu verlassen, so dauerte es letztlich sechs Monate, bis er sich endgültig dazu entschließen konnte.
Im Jahr 488/1095 schließlich verließ er Bagdad. Sein berühmtestes Werk Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn (Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften), welches er in seiner Zurückgezogenheit schrieb, wird bei genauerer Betrachtung zeigen, dass seine Entscheidung Bagdad zu verlassen, in der Idee begründet lag, die Missstände seiner Gesellschaft zu verbessern Denn er erkannte, dass sich die Gesellschaft und das Individuum religiös und moralisch entarteten, was zu politischer Ziellosigkeit und zu Schwankungen führte, die Unruhe und Schmerz verursachten. Aus diesem Grund soll er „Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften“ geschrieben haben.
Al-Ghazzālī lebt in einem wichtigen Wendepunkt des Kalām, nämlich dem 5. Jahrhundert nach Hidschra. In diesem Zeitalter wurde der Kalām nach und nach inhaltlich, danach in seiner Methode weiterentwickelt. Vor ihm bemühte sich Imām al-Ḥaramayn (Der Imam, der zwei heiligen Städten) al-Djuwaynī darum, die negativ belichtete Logik zu verteidigen. Auch wenn Ibn al-Ḥazm schon vor al-Ghazzālī begann in seinem Werk al-Faṣl über die Logikregeln zu schreiben, wurde sie mit al-Ghazzālī allgemein anerkannt. Er legte großen Wert auf die Logik. Der Grund, weshalb al-Ghazzālī sie so priorisierte, war der, dass sie seine Beweisform ordnet und passend aufreiht. Denn obwohl bei den vorherigen Mutakallimūn die Beweise zwar identisch waren, unterschieden sie sich insofern, als dass sie unordentlich aufgezählt wurden und jeder Satz allein für sich stand, sodass nicht klar war, welcher der vorausgehende Satz des anderen sei. In al-Mustaṣfā, sein bahnbrechendes Werk zu Uṣūl al-Fiqh, sagt er, dass man dem Wissen einer Person nicht trauen kann, wenn diese nicht die Regeln der Logik beherrscht. Durch die Nutzung von Logik und Philosophie eröffnete er eine neue Ära des Kalām (Mutaʾaḫḫirīn) und entwickelte hiermit eine neue Methodologie.
Ihm zufolge ist ʿIlm al-kalām Farḍ al-kifāyah; es genügt und nimmt die Verpflichtung von der Allgemeinheit, wenn sich einige damit befassen. Jederzeit muss es Gelehrte geben, die die ketzerischen Erneuerer und vom wahren Weg Abgeirrten verstummen lassen und die Herzen der Gläubigen vor Zweifeln schützen. Anders als Fiqh oder Tafsīr empfiehlt er, diese Wissenschaft nicht an die Mehrheitsgesellschaft heranzutragen.
Sowohl in al-Iqtiṣād fī al-iʿtiqād als auch in Iḥyāʾ schreibt er, dass Fiqh wie Nahrung sei und Kalām wie Medizin. Einen von der Nahrung ausgehenden Schaden würde niemand akut befürchten. Anders sei dies jedoch bei der Medizin, das (bei unkontrollierter Einnahme) den Organen schaden könnte.
Er behauptet, dass sein Werk Qawāʿid al-ʿaqāʾid für jene ausreichend sei, die fremden Einflüssen noch nicht ausgesetzt waren. Für gemäßigte, ketzerische Erneuerer reicht al-Iqtiṣād fī al-iʿtiqād völlig aus. Er gesteht aber auch, dass für Erneurer, die das Streitgespräch suchen, eine höhere Stufe des Kalām notwendig sei.
Die langanhaltenden Diskussionen unter den verschiedenen Schulen führten zu negativen Auswirkungen, die es ihm zufolge notwendig machen, sich mit den Erneuerern und der Diskussion zu beschäftigen. Kurz vor seinem Tod verfasste er das Werk Ilǧām l-ʿawām ʿan ʿilm al-kalām (Das Abhalten der Allgemeinheit von der Wissenschaft des Kalām), was einige veranlasste zu glauben, dass er zurück zu dem Weg der salaf aufruft und seine alten Meinungen revidiert. Jedoch wird man bei ganzheitlicher Betrachtung seiner Werke begreifen, dass für ihn Kalām eine Wissenschaft für Intellektuelle war und nicht für das einfache Volk. Im Iḥyāʾ schreibt er, dass der Mutakallim einem sehr gut ausgebildeten Mediziner gleicht, der dem Erkrankten, nur wenn er diese braucht, in wohldosierter Menge Medizin verabreicht.
Jener der sich in diesen Wissenschaften ausbilden möchte, muss drei Eigenschaften besitzen:
1. Seine gesamte Arbeit muss auf diese Wissenschaft (dem Kalām) ausgerichtet sein und er muss sehr fleißig sein.
2. Er muss Verstand, Einsicht (im Sinne von Verstehen) und die Fähigkeit der adäquaten Äußerung besitzen.
3. Er muss einen guten Charakter besitzen, religiös und gottesfürchtig sein, sodass er sich von den Gelüsten seiner Triebseele rettet.
Al-Ghazzālī bezeichnet in al-Mustaṣfā die Wissenschaft des Kalām als die allumfassende Wissenschaft, da sie die Prinzipien aller anderen Wissenschaften unter Beweis stellt. Zum genauen Gegenteil aber kritisiert er auch diese Wissenschaft. Dabei soll jedoch betrachtet werden weshalb: Wenn er den Kalām kritisiert, dann nicht, weil er an sich schlecht sei, sondern weil er unweigerlich gewisse Methoden mit sich bringt, z.B. den Djadal (Streitgespräch mit dem Ziel des unbedingten Sieges). Er schreibt in seinem al-Qisṭās al-mustaqīm:
„Wenn Allāh ein Volk vernichten will, so gibt er ihnen die Gier nach Diskussion.“
In seinem Iḥyāʾ erklärt er, weshalb die Diskussion so weitreichende Folgen hat. Ihm zufolge verschwinde die Erneuerung in einem Ort schnell, wenn es dort keine Diskussionskultur im Sinne des sinnlosen Hinterfragens gibt. Andersherum ist in einem Ort, wo viel diskutiert wird, die Beseitigung der Erneuerungen äußerst schwierig. Es sei nämlich so, dass die Diskussionsparteien nicht ertragen konnten, dass die andere Seite siegreich hervorgeht, sodass sie nicht einmal wollten, dass die Wahrheit ans Licht tritt.