Kurze Einführung in „Die Inkohärenz der Philosophen“ des Abū Ḥāmid al-Ghazzālī

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Titel:

Der Titel Tahāfut al-falāsifah ist eine Genitivverbindung der zwei Wörter Tahāfut (Inkohärenz) und Falāsifah (Philosophen). Zusammengesetzt bedeutet der Begriff „die Inkohärenz der Philosophen“.

Definition:

Das Werk, welches die peripatetische Philosophie und die neuplatonische Emanationstheorie widerlegt.

Entstehungskontext:

In einem Zeitraum von zwei Jahren studierte al-Ghazzālī die Lehren von Ibn Sīnā und al-Fārābī. Um sich zunächst im Bereich der Philosophie unter Beweis zu stellen, schrieb er im Jahr 437 (1094) Maqāṣid al-falāsifah (Die Intentionen der Philosophen) und ein Jahr später Tahāfut al-falāsifah.

Aufbau:

Die Tahāfut al-falāsifah besteht aus einem Einleitungstext, vier Vorworten (Muqaddimāt), zwanzig Problemstellungen (Masāʾil) und einem kurzen Schlusswort (Ḫātimah). 16 der Themen thematisieren die Metaphysik (Ilāhiyāt), die restlichen vier die Naturwissenschaften (Tabīʿiyāt). Die zwanzig Themen sind mit verschiedenen Schlüsselwörtern versehen. Zehn der Themen handeln um Ibtāl, d.h. sind über die Widerlegung; sechs dieser um fī taʿdjīzihim (Nicht-imstande-Sein), zweimal fī bayān ʿadjzihim (Über die Erklärung, dass sie dessen, d.h. der Thematik, nicht fähig waren) und einmal fī bayān talbīsihim (Über die Erklärung, dass sie in der Thematik lügen). Diese Termini wurden explizit von al-Ghazzālī für die entsprechenden Kapitel ausgewählt. 17 der Themen bzw. Überzeugungen der Philosophen seien ketzerische Erneuerung (Bidʿah); die drei restlichen Unglaube (Kufr):

  1. Die Ewigkeit der Welt (Qidam al-ʿālam)
  2. Gottes Wissen schließt das Allgemeine ein, jedoch nicht das Partikulare
  3. Auferstehung ohne Körper

Zu Anfang des Textes sagt al-Ghazzālī, dass er Leute gesehen habe, die sich als qualifizierter gegenüber ihren Zeitgenossen ansahen. Deshalb missachteten sie das Erlaubte und Verbotene, schätzten die Gottesdienste für gering und ließen selbst davon ab, bis sie schließlich wegen ihren Zweifeln ihre Bindung zur Religion verloren. Er erwähnt, dass der eigentliche Grund für das Abfallen vom Glauben die hellenistischen Philosophen Sokrates, Platon, Hippokrates und Aristoteles waren. Al-Ghazzālī gesteht, dass diesen Philosophen eine gewisse Vorzüglichkeit zukomme, jedoch erwähnt er auch, dass sie sich von ihrer Religion abgekehrt haben und diese als Ammenmärchen betrachteten. Da dies den muslimischen Philosophen so passt, haben sie sich auf die Seite der hellenistischen Philosophen gestellt und sind in den Unglauben geraten. Die Kritik richtet sich an Leute, die in der Tradition der Ismāʿilīten und Iḫwān aṣ-ṣafā (die lauteren Brüder) sind. Da diese sich von zwei Quellen speisen, al-Fārābī und Ibn Sīnā, kritisiert er diese. Da der „erste Lehrer“, Aristoteles, von al-Fārābī und Ibn Sīnā am meisten studiert und weitertradiert wurde, wird al-Gazzālī ihre fehlerhaften Ideen kritisieren. Dies tut er, indem er die Theorien der Philosophen infrage stellt und sie dazu nötigt, von der Meinung, ihre Aussagen seien unumstößlich, abzutreten. Die eigentliche Behauptung des Tahāfut ist, dass diese Philosophen ihre Ideen auf keinen unumstößlichen Fundamenten aufgebaut haben. Al-Ghazzālī sagt, dass die Mutakallimūn und die Falāsifah in drei Punkten auseinandergehen:

  1. Die Begriffe werden mit anderen Bedeutungen konnotiert
    Beispiel: Die Philosophen sagen, dass al-Djawhar (die Substanz) ein Urteilssatz ist, der kein Prädikat besitzt; etwas, was für sich selbst ausreichend ist; etwas, was existiert ohne dafür eines Zweiten zu bedürfen. Aus ihrer Sicht ist es nicht problematisch, Gott damit zu bezeichnen. Die Mutakallimūn konnotieren diesen Begriff anders, indem sie al-Djawhar als etwas, was einen Raum in Anspruch nimmt, verstehen. Demnach könne solches auch nicht für Allah verwendet werden. Diese Diskussion ist eine sprachliche und hat mit der Sache nichts zu tun.
  1. Naturwissenschaften und astronomische Ereignisse, wie die Mondfinsternis
    Al-Ghazzālī zufolge haben diese Angelegenheiten nichts mit der Religion zu tun. Jemand, der versucht die Religion zu verteidigen, indem er die Fakten der Naturwissenschaften ablehnt, sei ein Verbrechen. Es sei ihm zufolge ein Verbrechen, die Religion dadurch verteidigen zu wollen, indem die Fakten der Naturwissenschaften abgelehnt werden.
  2. Die Erschaffenheit der Welt, Gottes Eigenschaften und die Wiederauferstehung
    Al-Ghazzālī zufolge haben die Philosophen alle diese Aspekte geleugnet. Abgesehen von Abū Bakr ar-Rāzī hat kein muslimischer Philosoph öffentlich die heiligen Texte geleugnet. Doch al-Ghazzālī spricht ihnen dennoch den Glauben ab, da er ihre Aussagen über die religiösen Texte und ihre Urteile als Glaubensleugnung interpretiert.

 

Konkreter:

Das erste, was im Tahāfut al-falāsifah kritisiert wird, ist die „Ewigkeit der Welt“. Während die Anhänger der verschiedenen Glaubensrichtungen (Monotheismus) versuchten mit diversen Beweisführungen die Anfänglichkeit bzw. Vergänglichkeit des Kosmos zu beweisen, behaupteten Aristoteles, Proklos und die Dahriyyah[1] das Gegenteil. Nach Peripatetikern, wie al-Fārābī und Ibn Sīnā ist die Welt hinsichtlich der Zeit ewig, aber ihrem Wesen nach, rein ontologisch betrachtet anfänglich bzw. nachträglich. Diese Philosophen haben, damit sie die philosophischen mit den religiösen Ansichten versöhnen können, die Emanationslehre von Plotinus übernommen, bei der die Welt durch das Emanieren (Ausströmen aus Gottes Sein/Existenz) erschaffen wurde. Al-Ghazzālī und die Mutakallimūn haben diese äußerst problembehaftete Theorie stark angegriffen. Der Grund hierfür ist, dass die Mutakallimūn die Existenz Gottes durch den Ḥudūth-Beweis[2] erwiesen. Wenn aber die Welt hinsichtlich der Zeit ewig wäre, dann greift der Beweis nicht, was bedeutet, dass der Versuch Gott rational zu beweisen, erschwert würde. Aus diesem Grund widerlegt al-Ghazzālī mit vier Beweisen diese Theorie. In den Werken der beiden Philosophen lässt sich diese Ansicht nicht finden. Ibn Sīnā beispielsweise sagt, dass nur Gott ewig sei und nicht durch etwas anderes hervorgekommen sein kann, da das Nichtsein ihn nicht überschritten habe. Alles, was nicht Gott ist, muss im Nachhinein da gewesen sein. Dies gilt für alles andere, weil das Nichtsein den Dingen vorausgeht, während ihr Sein von Gott kommt. Dass al-Ghazzālī Ibn Sīnā weiterhin des Unglaubens bezichtigt, kann möglicherweise damit in Verbindung gebracht werden, dass Ibn Sīnā die Ṣudūr-Theorie, welche den Gedanken der Ewigkeit beinhaltet, vertritt. Al-Ghazzālī hat erfolgreich vorgelegt, dass die Emanationstheorie widersprüchlich ist.

Ein anderes Thema, was al-Ghazzālī kritisiert, ist die Ansicht der Falāsifah, dass die Wiederauferstehung lediglich seelisch sei. Er widerspricht ihnen insofern, als dass das Verständnis nicht durch die Vernunft, sondern durch Überlieferung (Naṣṣ) erfolgen kann. Er widerspricht der Meinung, dass die Gaben im Paradies und die Strafe im Höllenfeuer aus den offenkundigen Überlieferungen, als materielle Symbole betrachtet, nicht auf eine seelische Ebene reduziert werden dürfen. Sein erster Adressat in diesem Unterfangen ist Ibn Sīnā, der hierzu eigens eine Schrift verfasste, um diese Meinung zu argumentieren: Ar-Risālah al-aḍḥawiyyah fī amr al-maʿād. Das zwanzigste Thema seines Tahāfut al-falāsifah bezieht sich auf diese Ansichten, die er mit Vernunftsbeweisen und durch heilige Überlieferung  widerlegt. Er fällt das Urteil, dass dies der Prophetie und der Scharīʿah widerspreche. Al-Ghazzālī ist der Ansicht, dass die geistigen (Maʿnawī) Genüsse und Schmerzen intensiver sind als die physischen (Māddī).

Al-Ghazzālī beklagt sich über seine Vorgänger, die die philosophischen Debatten nicht ganz durchdrungen haben und deshalb nicht beheben konnten. Ihre Methoden, das Verhältnis zwischen Vernunft und Offenbarung, Religion und Philosophie zu diskutieren, befand er als unergiebig. Nachdem al-Ghazzālī die Ansichten der Philosophen analysiert hat, kritisiert er diese von allen Seiten, jedoch ohne Unterstellungen und Ernstlosigkeit, wenngleich er manchmal polemisiert. Al-Ghazzālīs Intention ist es manche religiösen und metaphysischen Fragen ausschließlich zum Thema der Religion und nicht zur Philosophie zu machen.

Es kann gesagt werden, dass Tahāfut al-Falāsifah eine neue theologische Diskussionstradition eröffnet hat, in der etwa zehn Streitschriften geschrieben wurden. Ibn Ruschds Antwort, Tahāfut at-tahāfut, ist darunter wohl das berühmteste Beispiel.

(Quelle: Mahmut Kaya, TEHÂFÜTÜ’L-FELÂSİFE, in: IA, Bd. 42, Ankara 2011, S. 313-314.)

 

Wichtige Werke im Bereich Kalām & Falsafah:

  • Al-Munqidh min ad-dalāl
  • Maqāṣid al-falāsifah
  • Tahāfut al-falāsifah
  • Al-Iqtiṣād fī al-iʿtiqād
  • Ilǧām al-ʿawām ʿan ʿilm al-kalām

[1] Die absolute Zeit. Jene, die an die Macht des „dahr“ glauben und überzeugt sind, dass dieses der Grund für alles andere sei. (Bekir Topaloǧlu/Ilyas Çelebi, Kelâm Terimleri Sözlüǧü, Istanbul 42015, S. 70.

[2] 1. Prämisse: Alles was zu existieren begann, hat eine Ursache.
2. Prämisse: Das Universum begann zu existieren.
      3. Also: Das Universum hat eine Ursache