»Wenn dann der betäubende (Schrei) kommt, am Tag, da der Mensch flieht vor seinem Bruder und seiner Mutter und seinem Vater und seiner Gefährtin und seinen Söhnen – jedermann von ihnen wird an jenem Tag eine Angelegenheit haben, die ihn beschäftigt. Die (einen) Gesichter werden an jenem Tag erstrahlen, lachen und sich freuen. Und auf (den anderen) Gesichtern wird an jenem Tag Staub sein und sie werden von Dunkelheit bedeckt sein. Das sind die Ungläubigen und Sittenlosen. « (Sura 80 ʿAbasa, 33-42)
Der Tag der Auferstehung ist ein sehr wichtiges und ein für den Menschen gewaltiges Ereignis. Nach dem ehrenwerten Propheten wird dieser Tag so gewaltig und furchterregend sein, dass der Mensch völlig entblößt, ohne Kleider dastehen, doch niemand den eigenen Zustand und den seines Nächsten begreifen wird.1 An diesem Tag ist jeder mit sich selbst beschäftigt, da er weiß, dass nun die Weichen für die Ewigkeit gestellt werden.
Im oben genannten Koranvers ist ganz zu Beginn von einem „betäubenden (Schrei)“ die Rede, zu Arabisch „aṣ-Ṣāḫḫah“ [الصاخة]. Hier wird ein interessantes Sinnbild und ein grandioses Beispiel für die Eloquenz im Koran präsentiert. Das Wort „Ṣāḫ“ selbst beschreibt den heftigen Zusammenstoß von zwei festen, aber nicht hohlen Dingen, wie Metall oder Gestein. Das Wort „Ṣāḫḫah“ jedoch widmet sich nur dem im Zusammenstoß entstandenen Lärm, dessen Wucht so heftig ist, dass von einem ohrenbetäubenden Schrei gesprochen wird.2
Nach dem spätosmanischen Koranexegeten Elmalılı Hamdi Yazır hat dieser „betäubende (Schrei)“ zwei Besonderheiten:
1. Der Schrei wird selbst wahrgenommen.
2. Die Wucht ist so gewaltig, dass man taub werde und somit alles andere gar nicht mehr wahrnehmen kann.
Man könnte zunächst meinen, dass hier lediglich vom ehrenwerten Engel Isrāfīl die Rede ist, der zum zweiten Mal in sein Horn stößt und damit einen lauten Ton verursacht. Jedoch ist offensicht- lich auf einen weiteren Punkt hinzuweisen. Es wird hier nämlich deutlich, dass uns am Tag der Auferstehung die größte aller Katastrophen erwartet. Der Mensch wird an jenem Tag nur noch Augen für seinen Prozess haben. Alles andere wird ihn nicht interessieren. Er ist wie taub geworden und nur seine Rechenschaft beschäftigt ihn. Ist es dann nicht selbstverständlich, sich auf diesen einen Tag vorzubereiten, um an diesem Tage nicht von jenen zu sein, deren Gesichter trüb vor Verlust sind. Die Vorbereitung beginnt hier und jetzt, nicht später! Letztlich soll der Mensch seine vollkommene Aufmerksamkeit auf das Jenseits richten und dem Diesseits die Stirn bieten, also in Bezug auf dieses taub sein. Hierfür müssen wir uns der Wichtigkeit vom Tag der Abrechnung ernsthaft bewusst werden. Die Welt sollte auf taube Ohren stoßen.3
Eines Tages stellten die Schüler Bediüzzamans dem Imam eine wichtige Frage: „In diesen schreck- lichen Zeiten des Weltkrieges4, der die ganze Welt durcheinander gewirbelt hat und die Zukunft der islamischen Welt betrifft, haben Sie seit fünfzig Tagen (inzwischen sind sieben Jahre vergangen, ohne dass sich seine Haltung geändert hat!) nie darüber gesprochen und sich nie dafür interessiert, wogegen manche religiöse und gelehrte Menschen Gemeinschaft und Gebet in der Moschee vernachlässigen und eilen, um Rundfunk zu hören. Gibt es etwa ein noch größeres Ereignis als dieses? Oder ist es schädlich, sich damit zu beschäftigen?5 Daraufhin antwortet er seinen Schülern: „Ja, es herrscht eine noch größere Tatsache, ein noch gewaltigeres Ereignis als dieser Welt- krieg und dieser Weltkrieg fällt im Vergleich dazu in Bedeutungslosigkeit. […]“6
Stell dir vor, du sitzt nichtsahnend zuhause und es erreicht dich vom Gericht ein Brief. In diesem Brief steht geschrieben, dass du hiermit zum obersten Gericht geladen wirst. Dir wird vorgeworfen einen schweren Raub begangen zu haben. Bei Verurteilung drohen dir bis zu 15 Jahre Haft.
Nun wirst du gefragt:
- Könntest du unter diesen Umständen noch ruhig schlafen?
- Könntest du noch so ausgelassen feiern?
- Würdest du dich nicht um den besten Anwalt bemühen, der in der Lage wäre, deine Un-schuld zu beweisen.
- Würdest du nicht die besten Beweise sammeln?
Ganz sicher würdest du keine Kosten und Mühen scheuen, um diesen Prozess zu gewinnen. Möglicherweise könntest du diese 15 Jahre Haft bei einer Verurteilung absitzen. Du könntest evtl. nochmal von vorne beginnen. Du könntest zurück zu deiner Familie und deinen Freunden. Du könntest dir ein neues Vermögen aufbauen.
Vielleicht könntest du all das schaffen, aber wie willst du den Verlust am Tag des Jüngsten Gerichts begleichen?
Wie willst du die Trennung von deiner Familie verkraften?
Wie willst du die Demütigung an diesem Tage ertragen?
Um bei einer wichtigen Prüfung rechtzeitig einzutreffen, stellt der Mensch unzählige Wecker, aber das Morgengebet verschläft er.
Der Mensch pflegt seine Liebe zu Autos und anderen Hobbys und vergisst sie nie, aber seinen Schöpfer und seine Gnadengaben allzu oft.
Wenn es um Geld, Autos und Vergnügen geht, zögert der Mensch nicht lange. Geht es aber um Allah und seinen ehrenwerten Propheten, dann ist dies zweitrangig für ihn.
Vielleicht ist die Champions League wirklich wichtiger als das fünfmal tägliche Gebet. Vielleicht sind die Serien auf Netflix wirklich viel interessanter als die Wahrheiten des Islams. Vielleicht hat diese Welt tatsächlich mehr zu bieten als das Paradies. Vielleicht ist dir deine Triebseele (Nefs) wertvoller als die Zufriedenheit Allahs. Vielleicht? Zuletzt wird der Tag des Gerichts aufklären, was wirklich wichtiger und wertvoller war…
Schenken wir zu guter Letzt dem berühmten Ausspruch von ʿUmar, Allahs Wohlgefallen auf ihm, unsere Aufmerksamkeit: „Zieht euch zur Rechenschaft, bevor ihr zur Rechenschaft gezogen werdet.“
Auf das wir hören mögen und unsere Herzen endlich erweichen. Āmīn.
1 Sahih al-Bukhari.
2 Elmalılı Hamdi Yazır, Hak Dini Kuran Dili.
3 Elmalılı Hamdi Yazır, Hak Dini Kuran Dili.
4 Hier ist vom Zweite Weltkrieg die Rede.
5 Wegweiser für die Jugend
6 Stab Moses