اَلْعِلْمُ بَيْنَ الْاِثْنَيْنِ
Das Wissen befindet sich
zwischen Zweien.[1]
Diskussionskultur in der islamischen Tradition
ʿIlm al-Kalām, im Deutschen auch als Dogamtik, (Disputations-)Theologie und Systematische Theologie bekannt, beschäftigt sich mit der Ergründung rationaler Beweise für glaubensbezügliche Inhalte des Islam. Denn der Koran und somit auch der Islam beanspruchen für sich, dem Menschen sowohl auf geistiger wie rationaler Ebene ein Wegweiser durch das diesseitige Leben zu sein.[2] An unzähligen Stellen des Koran wird der Mensch zum nachdenken, nachsinnen, kontemplieren und begreifen angehalten. So heißt es beispielsweise im 24. Vers der Sure Muḥammad:
„Denken sie denn nicht sorgfältig über den Qurʾān nach?“
An anderer Stelle heißt es:
„Diese Gleichnisse prägen Wir den Menschen, auf daß sie nachdenken mögen.“[3]
Ausgehend von Versen wie diesen erkennen wir, dass der Islam niemals genuin wissenschaftsfeindlich sein kann, ja sogar den Menschen dazu verpflichtet, seinen Intellekt zu verwenden, um auf bestimmte Wahrheiten zu stoßen, die zu entdecken sich in seiner Seinswirklichkeit befinden. Die Wissenschaft des Kalām beansprucht die Vernunft als wichtiges Instrument, um die unzähligen Wahrheiten der Religion rational zu begreifen. So geschieht es denn, dass die Mutakallimūn (Wissenschaftler, die im Kalām forschen) beispielsweise mit schlüssigen Gottesbeweisen dem Verstand einen, wenn auch abstrakten, Zugang zu Allah verschaffen.[4]
Die Erkenntnis eines Gelehrten, und dies gilt für alle Wissenschaften, muss überprüft werden. Es kann aber sein, dass die Selbstüberprüfung nicht ausreichend umfassend ist, weil nicht unbedingt alles bedacht werden kann, sodass für eine kritische Auseinandersetzung weitere Gelehrte desselben Niveaus vonnöten sind. Um aus der erlangten Erkenntnis also eine noch fundiertere ausbilden zu können, sollte diese nun diskutiert werden, um auch die verborgensten Unstimmigkeiten ausfindig zu machen und das Wahre hervortreten zu lassen. Denn nur durch einen Austausch mit Fachmännern wird der Gelehrte wirklich begreifen, ob seine vertretene Meinung konsistent war oder nicht. Die Methode, die den Gelehrten dieses Wissen verschafft, nennt sich ʿIlm al-Djadal bzw. ʿIlm al-Munāẓara. Beide Methoden sind sich augenscheinlich ähnlich, doch unterscheiden sich im Detail maßgeblich voneinander. Im Folgenden soll deshalb eine Einführung in beide Künste vorgelegt werden.
Was ist ʿIlm al-Djadal?
Die linguistische Bedeutung für Djadal lautet Streit, Kontroverse, Polemik, Wortstreit, Disput, Diskussion, Auseinandersetzung.[5] Dem muslimischen Philosophen al-Fārābī (gest. 950) zufolge sei Djadal der Versuch keine inkonsistenten Aussagen zu treffen und dem Gegner nicht zu unterliegen.[6] In seinem Iḥṣāʾ al-ʿUlūm schreibt er weiter: „Djadal ist, dass von jemandem Worte verwendet werden, die eine starke Wahrscheinlichkeit ergeben, um die eigene Ansicht oder die eines anderen zu berichtigen. Obwohl sie kein definitives Wissen darstellen, glaubt der Mensch sie seien es.“[7] Aus den Definitionen werden drei wesentliche Aspekte deutlich. Einerseits ist im ǧadal der Sieg ausschlaggebend. Dies wird nur erreicht, wenn der Disputant ein starkes logisches und grammatikalisches Wissen besitzt. Andererseits sind die anfallenden Argumente zwar überzeugend, jedoch streng betrachtet nicht notwendig, sondern bedingt gültig. Ibn Khaldūn stimmt al-Fārābī insofern zu, als dass die logische Form der Beweise und Analogien im djadal geschützt sind.[8] Dies aber würde ein Mudjādil (d. h. Djadal-Betreibender bzw. Disputant) nur dann schaffen, wenn er wie al-Fārābī voraussetzt, äußerst begabt und geschult in der Logik und in der Grammatik ist. Ibn Ḫaldūn vergleicht diese Kunst jedoch (inhaltlich) eher mit der Sophisterei[9], deren Vertreter als Wanderlehrer der Redekunst im altgriechischen Volk eine angesehene Stellung hatten. Platon identifiziert sie als eloquente Wortverdreher und kritisiert, dass es ihnen nicht um die Wahrheit ginge, „sondern darum, ein Wortgefecht zu gewinnen; denn genau diese Fähigkeit würden sie gegen Bezahlung vermitteln.“[10] Aus den oben angeführten Definitionen erkennen wir also, dass al-Djadal einer ergebnislosen Diskussion gleichkommt. Ihr Ziel ist nicht etwas, wie es bei der Apodiktik der Fall ist, gesichertes Wissen zu erlangen, sondern sein Gegenüber in Ohnmacht zu stürzen. Zwei Disputanten trachten danach sich gegenseitig in ihrer Idee umzustimmen und sich durch ein erbittertes Streitgespräch gegenseitig so heftig wie möglich zu Boden zu schlagen. Dabei muss der, der mit der Begründung seiner These belastet ist, seine Meinung gegenüber seinem Diskussionspartner unbedingt verteidigen, selbst im Falle der Widersprüchlichkeit.[11] Die angewandten Prämissen sind allseits akzeptiert (Musallam) und populär (Maschhūr). Das ist der Grund, weshalb diese Kunst nicht auf Ebene der Wissenschaft ausgetragen werden sollte.
Diese Diskussionsmoral wird vom Koran auf das Äußerste kritisiert.[12] Daraus erkennen wir, dass der Koran nicht zu unnötiger, erfolgloser und um ihrer selbst willen abgehaltener Diskussion anleitet. Schließlich findet sich in der prophetischen Tradition folgendes Wort: „[…] Und wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt, der soll Gutes sprechen oder schweigen.“[13] Wer den unbedingten, blinden Sieg anstrebt, trägt in sich bereits Hochmut und Stolz, was durch die göttliche Religion getadelt wird. So sehr sogar, dass der Prophet über jene folgendes sagt:
„[…] Jetzt werde ich euch erzählen, wer die Personen sind, die für die Hölle bestimmt sind: Es ist derjenige, der unwissend, unverschämt, stolz und arrogant ist.“[14]
Es könnte nun aber vorgehalten werden, dass selbst der Prophet mit Djadal beauftragt wurde (wa djādilhum bī-allatī hiya aḥsan). Ar-Rāġib al-Iṣfahānī schreibt über den Vers „[…] und streite mit ihnen auf die beste Art. […]“[15], dass nicht einmal dem Propheten, der im Koran schließlich mit vollendetem Charakter[16] beschrieben wird, erlaubt wurde uneingeschränkt zu diskutieren, da er durch den Zusatz „auf die beste Art“ eingeschränkt wird.[17] An anderer Stelle findet sich im Koran eine Situation, in der ʿĀs ibn Wāʾil den Propheten mit einem Knochen in seiner Hand herausfordernd fragt, ob Allah diese Knochen wiederbeleben könne. Wenn die Methode ʿĀs ibn Wāʾils aufmerksam betachtet wird, dann findet sich hinter der Frage die Art des Djadals. Denn ʿĀs ibn Wāʾil versucht nicht etwa den Propheten mit schlüssigen Beweisen zu überzeugen, sondern ihn mit ohnehin unter den Menschen als berühmt geltenden Prämissen zum Schweigen zu bringen. Dies tut er damit, dass er ihn fragt, ob etwa diese Knochen tatsächlich wieder Leben finden werden, wo sie doch ganz eindeutig in diesem Moment nicht von dergleichen zeugen. Eine solche berühmte, allseits akzeptierte Prämisse kann entweder wahr oder falsch sein. Sie wird aber nicht ihrer Evidenz wegen akzeptiert, sondern weil sie von der Gesellschaft schlichtweg als gültig angesehen wird. Auf die Anschuldigung des Polytheisten, der wohlgemerkt auch an Allah glaubt, jedoch mit dem Zusatz, dass es neben dem wahren Schöpfer noch weitere kleine Gottheiten gebe, die es indirekt anzubeten gelte, da Allah schließlich zu erhaben sei, um ihn direkt anzubeten, antwortet der Koran folgendermaßen:
„Sprich: „Er, Der sie das erstemal erschuf – Er wird sie beleben; denn Er kennt jegliche Schöpfung.“[18]
Damit gebietet er dem Fragenden Einhalt. Oben wurden berühmte Prämissen angesprochen. Was aber sind sie genau? Gibt es solche auch in unseren Denkstrukturen? Ja, darunter kann z.B. folgende Behauptung gezählt werden: „Gerechtigkeit ist gut, Unrecht ist schlecht.“[19] Ein belehrendes Beispiel, das Emiroğlu anführt, ist jenes, das angestellt wird, wenn mit Christen darüber diskutiert wird, ob der Prophet, Allāhs Segen und Friede auf ihm, tatsächlich körperlich wie seelisch die Miʿrāǧ unternommen hat:
Der Muslim argumentiert:
- Du akzeptierst, dass Jesus in den Himmel gestiegen ist. (Musallamāt[20])
- Jesus war ein Mensch.
- Das bedeutet, es wird akzeptiert, dass manche Menschen in den Himmel gestiegen sind.
- Warum also ist es so abwegig für dich, dass auch der Prophet Muḥammad, Allah segne und schenke ihm Heil, in den Himmel gestiegen ist?
Diese Methode ist natürlich kein Beweis für die Himmelsreise des Propheten. Jedoch dient sie dazu, den Feind zum Schweigen zu bringen.[21]
Ist nach all dem negativen Wort, was in Bezug auf ǧadal gefallen ist, diese Wortkunst nun völlig zu verwerfen? Stimmen, wie die des Imām al-Ḥaramayn al-Djuwaynī jedenfalls erheben Einspruch gegen die negative Konnotation der Termini und meinen, Djadal sei vielmehr eine allgemeine Diskussionsart, bei der das, was potenziell gewusst werden kann, hervorgebracht werden soll, wobei er das Ziel der Wahrheitsfindung stärker gewichtet. Ihmzufolge sei in seinem Inhalt wie in seinem literarischen Geist eine Art islamischer Würde vorhanden.[22] Hier muss allerdings gesagt werden, dass al-Djuwaynī eher in der Wissenschaft des Kalām zu verorten ist. Was aber kann ein Philosoph der Dialektik (also al-Djadal) abgewinnen, wo doch nahezu alles an ihr kritisiert wurde. Nehmen wir denselben al-Fārābī, der zuvor jene Kunst kritisiert hat. Er meint, die Philosophie führe den Menschen zur Glückseligkeit. Um aber definitive Beweise, die in der Philosophie erforderlich sind, verstehen zu können, ist djadal eine gute Übungsmethode.[23] Deshalb sind die Konklusionen im djadal nicht der Zweck seiner Praxis sind, sondern die Kompetenzen definitives Wissen zu entwickeln. Sein geistiger Schüler ibn Sīnā sagt, dass djadal bei solchen Menschen angewendet werde, die die Apodiktik (al-Burhān) nicht verstehen.[24]
Abschließend können wir sagen, ʿIlm al-Djadal hat sowohl seine guten als auch seine negativen Seiten. Wir müssen ihr (d.h. ʿIlm al-Djadal) zugestehen, dass sie als Streitkunst äußerst effektiv ist um die Opposition Mundtot zu machen. Wird die Theorie berücksichtigt, die den Namen Kalām auf das Verb kalama (verletzen) zurückführt, so ist unschwer erkennbar, dass diese Wissenschaft hitzige Debatten hervorbringt. Deshalb erkennen wir den Bedarf an dialektischer Diskussion insbesondere in der Wissenschaft des kalām.[25] Nach ibn Khaldūn (gest. 808/1406) habe sie (d.h. die Wissenschaft des Kalām) es zur Aufgabe, die vom Īmān stammende ʿAqīdah mit rationalen Beweisen zu belegen und die (herätischen) Ideen der vom Weg der frühen Muslime und dem der Ahl as-Sunnah wa al-Djamāʿah Abgekommenen, zu widerlegen.[26] Bedeutet dies nun, die Mutakallimūn würden so, wie es in der Dialektik üblich ist, nur auf prominente Prämissen zurückgreifen? Sicherlich nicht! Beweis hierfür ist eine berühmte andere intentionale[27] Definition, die auf Imām at-Taftāzānī zurückgeführt wird: „(Kalām ist,) mit klaren Beweisen die religiösen Glaubensgrundlagen zu wissen.“[28]
Im Wissen darüber, dass al-Djadal ein zweischneidiges Schwert ist, sollte sie nun denn äußerst bedacht und nur in notwendigen Situationen angewendet werden.
Was ist ʿIlm al-Munāẓarah?
Die linguistische Bedeutung von Munāẓarah leitet sich zunächst vom Verb naẓara ab, welches als ansehen, betrachten, beachten, beobachten etc. verstanden werden kann.[29] Munāẓarah bedeutet folglich, wie es auch bei Djadal der Fall ist Wetteifer, Streit, Wortstreit, Debatte, Disput, Diskussion, Kontroverse; Aufsicht, Inspektion.[30] Es wird auffallen, dass nahezu alle deutschen Bedeutungen ein unschöner Beigeschmack begleitet, der so im arabischen Original nicht enthalten ist. Ist denn das Ziel von Munāẓarah Streit und Sieg um jeden Preis? Ibn Sīnā würde dem widersprechen, wenn er in seiner fachspezifischen Definition folgendes über diese Kunst sagt: „Munāẓarah ist eine Untersuchung, bei der einer von zwei Diskutanten (versucht) die Wahrheit zu erklären, während der andere ihm dabei hilft, und ihre Absichten (stets) die Ergründung von Wissen ist.“[31] Auffallend sind hier die zwei Elemente Wahrheit und Wissen, die tatsächlich im Mittelpunkt einer jeden Debatte von der Munāẓarah-Methode stehen. Ḥasan Paschazāda liefert im Gegensatz zu der friedlich anmutenden Definition Ibn Sīnās eine eher streitlustige Definition. Munāzarah sei ihmzufolge eine sich zwischen zwei Leuten ereignende Unterhaltung, bei der einer von beiden Gesprächspartnern, um die Wahrheit aufzudecken, seine eigene Idee zu beweisen und die (Ansicht) seines Gegenübers zu widerlegen sucht.“[32] Hier sehen wir den klaren Unterschied zwischen beiden Künsten.
Während Djadal eine Diskussion ist, bei der die Absicht darin liegt, unbedingt siegreich die Debatte abzuschließen, verhält es sich mit Munāẓarah so, dass sie die Wahrheit ins Zentrum stellt, egal von welchem der beiden Disputanten sie erkannt und ausgesprochen wird.
Im Vers 148 des Kapitels al-Anʿām heißt es:
„Die Götzendiener werden sagen: „Hätte Allah es gewollt, so hätten weder wir noch unsere Väter (Allah etwas) beigesellt; auch hätten wir nichts ohne Erlaubnis gemacht.“ Genauso leugneten schon jene, die vor ihnen waren, bis sie Unsere Strenge zu kosten bekamen. Habt ihr irgendein Wissen? Dann bringt es für uns zum Vorschein. Doch ihr geht nur Vermutungen nach; und ihr rätselt nur.“
Dieser Vers zeigt die Methode von Munāẓarah. Denn eine Behauptung steht und fällt mit den Belegen, die sie stützen. Gibt es irgendeinen Beweis für die Ansichten der Polytheisten? Nein, denn sie argumentieren mit Autoritätsglaube und nicht mit festen Belegen, die ihre Behauptung stützen könnten.
In einem anderen Kontext zeigt der Koran, wie eine Behauptung nachvollziehbar argumentiert wird:
„Gäbe es in (Himmel und Erde) Götter außer Allah, dann wären wahrlich beide dem Unheil verfallen. Gepriesen sei denn Allah, der Herr des Thrones, Hoch Erhaben über das, was sie beschreiben.“[33]
Gibt es denn einen Zweifel an den Konsequenzen des Verses? Imām Bediüzzaman Said Nursi will jedem noch so verbohrten Menschen beweisen, dass die Konsequenzen wahr sind, und dabei beginnt er beim Menschen selbst: „Siehe in welchem Grade diese, wenn auch nur schattenhaften Weisungs- und Herrschaftsbefugnisse unter schwachen und hilfsbedürftigen Menschen jegliche Teilhaberschaft zurückweisen, die Beteiligung anderer ablehnen und eine Partnerschaft in der Herrschaft nicht anerkennen und danach streben, mit einem schrankenlosen Fanatismus ihre Unabhängigkeit im Amt zu bewahren; und wenn du dann vergleichen kannst, in welchem Grade bei einer vollendeten Herrschaftsbefugnis, bei der Herrschaft Gottes, in welchem Grade bei einer vollendeten Weisungsbefugnis, der der Erhabenheit Gottes, in welchem Grade bei einer vollendeten Unabhängigkeit, bei der Einheit Gottes, in welchem Grade bei einer vollendeten Autarkie, bei der Allmacht Gottes, Ihm, dem Glorreichen, diese Ablehnung einer Beteiligung, diese Zurückweisung einer Partnerschaft, diese Abwehr einer Teilhaberschaft, in welchem Grade dies bei einer solchen Herrschaft notwendig, zwangsläufig und unentbehrlich ist, dann vergleiche dies!“[34]
Alles in allem betrachtet wird nun deutlich, dass Munāẓarah, also die auf Wahrheitsfindung ausgerichtete Diskussionsmethode eine hochwissenschaftliche Form der Auseinandersetzung ist. Da sie nicht mit einem vorgefassten Urteil arbeitet, nicht also darauf aus ist, sein Gegenüber zu übertrumpfen, herrscht kein Ärger und keine subjektive Versessenheit.[35] Insofern wird sie vor allen anderen Diskussionsarten reines Wissen hervorbringen. Und dies ist schließlich die Absicht eines jeden wahrheitsorientierten Gelehrten.
Wie sollte eine richtige Diskussion verlaufen?
Nachdem nun die Diskussionsarten abgehandelt wurden, begeben wir uns jetzt wenn auch flüchtig etwas tiefer und betrachten, wie eine ordentliche Diskussion unter muslimischen Gelehrten veranstaltet wird. Denn damit eine Diskussion fruchtbar endet, bedarf es strengen Regeln, um letztlich solches in Erscheinung treten zu lassen, um dessentwillen debattiert wurde. Zu diesem Zweck haben große Denker der islamischen Welt meisterhafte und richtungsweisende Anleitungswerke verfasst.[36] Die folgenden Anstandsregeln entstammen unter anderem dem Standardwerk der Diskussionslehre „Tartışma Usûlü“ (Die Methodenlehre der Diskussionskunst), welches im Sinne einer Einführung von dem osmanischen Gelehrten Ismail Galanbawī (1204/1790) verfasst wurde:
Es stehen sich in einer Diskussion zwei Parteien gegenüber. Derjenige, der seine These vor seinem Gegenüber erläutert und verteidigt wird Mūdjib oder Muʿallil genannt.[37] Der andere, der als Fragender fungiert und die Kohärenz der Thesen seines Gegenspielers überprüft, wird Sāʾil genannt.[38]
Die in diversen TV-Beiträgen veranstalteten und bedauerlicher Weise zumeist ihr Ziel verfehlenden Diskussionen zeigen uns in aller Deutlichkeit, dass die Werke eines Galanbawī oder eines Saçaklızāda auch heute äußerst aktuell sein dürften.[39] Im Folgenden sollen die Rechte der beiden Parteien bündig aufgelistet und wenn nötig erläutert werden:
Die Rechte des Widersprechenden
Er hat in drei Fällen das Recht, ebenfalls zu widersprechen:
- Bei einer Behauptung des Antwortenden (Mūǧib) kann der Fragende (Sāʾil) nach den Beweisen fragen, was Manʿ (Hinderung) genannt wird. Mögliche Formulierungen wären: „Ich denke nicht so!“ oder „Weshalb soll das so sein?“
Der Widersprechende tut dies generell nachdem die Argumentation seines Diskussionspartners beendet ist. Wenn der zunächst aktive Teil (d. h. der Mūǧib) seine gesamte Argumentation noch nicht zu Ende geführt, bis hierhin aber seine Grundthese aufgestellt hat und ohne auf diese mit weiteren Beweisen einzugehen fortfährt, dann darf sein Gegenüber (d. h. der Sāʾil) sofort einschreiten und von seinem ersten Recht Gebrauch machen. Das tut der Widersprechende indem er die Grundthese direkt angreift. Galanbawī meint jedoch, dass dies nicht viel zu bedeuten habe.[40]
- Vom Fragenden wird auf die Behauptungen des Sich-Rechtfertigenden ein Gegenbeweis aufgeworfen, der seine Behauptung widerlegt. Das wird Naqḍ (Aufhebung und Ungültigkeitserklärung) genannt.
- Der Fragende nimmt keine der zwei Verfahrensweisen in Anspruch, sondern stellt eine Antithese auf, die er beweisen kann. Das nennt sich Muʿāraḍah (Einhalt gebieten bzw. hindern).[41]
Diese drei Rechte besitzt die zunächst passive Figur in der Diskussion. Wenn sie diese Regeln kennt, dann erreicht sie ihr Ziel auf legitime Art und Weise. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass auch der Antwortende in der Diskussion von drei Rechten Gebrauch machen darf. Diese werden ebenfalls nun kurz dargestellt:
Die Rechte des im Streitgespräch Antwortenden
Er hat in drei Fällen das Recht, ebenfalls zu reagieren:
- Seine hinterfragten Ansichten zu beweisen.
- Wenn der Einspruch mit einer Prämisse (Sanad), die dazu dient, den Einspruch zu stärken, aufgeworfen wurde, dann kann der Antwortende die Prämisse in zwei Fällen widerlegen: die definitiv allgmeinste Prämisse und die gleichwertige Prämisse.
- Vom ersten Beweis zum zweiten Beweis überzugehen. Dies darf aber nicht so gedeutet werden, dass er etwa seine Position nicht hätte auch beweisen können. Ein Beispiel soll dies veranschaulichen: Im Koran erfahren wir von dem Streitgespräch zwischen Abraham, der Friede sei mit ihm, und dem ungerechten Herrscher: „…Da sprach Abraham: „Mein Herr ist der, welcher lebendig macht und sterben lässt“[42]… Als dies der Herrscher hört lässt er zwei Gefangene aus dem Gefängnis zu sich rufen. Während er dem einen die Freiheit schenkt, verurteilt er den anderen zu Tode und meint, Abraham bewiesen zu haben, er sei genauso fähig und mächtig wie sein Gott. Abraham hätte jetzt Einspruch erheben können, indem er gesagt hätte „Nein, das war gar nicht das, was ich wirklich gemeint habe!“ und wäre damit im Recht. Weil er die unaufrichtige Art des Herrschers sieht, sah er von seinem ersten Argument ab, obwohl dieses durchaus ausgereicht hätte, ging nicht weiter darauf ein und führt sein zweites, ultimatives Argument an: „Siehe, Allāh bringt die Sonne vom Osten, so bringe du sie vom Westen. Da war der Ungläubige zum Schweigen gebracht. Allāh leitet nicht die Ungerechten.“[43] Er geht also vom ersten Argument direkt zum zweiten über und verzichtet zugunsten eines stärkeren Arguments auf das erste. Dies tut er, um seinen Gegner unmittelbar und ohne Ausweichmöglichkeiten zum Schweigen zu bringen.[44]
Wie sollte aber eine Diskussion sein?
Bis hierher wurden wichtige formelle Aspekte der Diskussionskunst aufgeführt. Wie es aber häufig der Fall ist, ist die Theorie nicht das Ganze. Es ist der Geist, die innere aufrichtige Einstellung, die eine Diskussion wirklich erfüllt. Stellen wir uns vor beide Diskussionspartner würden voller Respekt und Ehrfurcht einander gegenüberstehen. Beide würden sie hocherwartungsvoll die Kritik des Anderen anhören. Niemand würde des Sieges willen zu widerlegen versuchen, sondern in der Hoffnung seinen Diskussionspartner vor falschen Ansichten zu schützen. Zugegeben, es ereignet sich vergleichbares allzu selten, vor allem in unserem Jahrhundert. Umso mehr erfreuen wir uns der wenigen lehrreichen Beispiele, die in unsere Geschichte eingehen durften. Als ein berühmter Präzedenzfall der Diskussionsphilosophie gilt das im Manāqib al-Imām Abī Ḥanīfah (Tugenden des Abī Ḥanīfah) überlieferte Ereignis:
Eines Tages sah Imām al-Aʿẓam (Abū Ḥanīfah) wie sein Sohn Ḥammād mit einigen Leuten über ein theologisches Thema diskutierte und wies ihn (d. h. seinen Sohn) zum Schweigen an. Einige Anwesenden fragten ihn: „Wir sehen dich, wie du mit manchen Leuten solche Unterhaltungen führst. Weshalb aber hinderst du uns daran?“ Imām al-Aʿẓam gibt folgendes zur Antwort: „Wenn wir reden, sind wir so vorsichtig, wie als würden wir einen Vogel auf unserem Kopf tragen.[45] Wenn wir reden, dann tun wir dies in steter Furcht davor, unser Freund könnte (bei dem, was er sagt oder zu dem wir ihn zu sagen drängen könnten) ausrutschen und in die Irre gehen. Ihr jedoch trachtet danach, dass euer Freund unterliegt. Wer den Sturz seines Freundes wünscht, will ihn eigentlich zum Ungläubigen erklären. Wer aber für seinen Freund den Austritt aus der Religion wünscht, der wird selbst ungläubig.
Schlusswort
Diskussionen sollen schulen, den Horizont erweitern, Fehlerhaftes berichtigen und die Wahrheit hervorbringen. Wenn die Grundeinstellung in einer Debatte diese ist, dann ist nichts gegen sie einzuwenden. Wir sind der Meinung, die Zunge, also das Wort, soll verbinden und nicht spalten. Im Wort [46] ist zugleich Nutzen und Schaden enthalten, je nachdem, wie es verwendet wird. Wie auch Waffen nicht leichtfertig und nur sehr bedacht Verwendung finden, so sollte das Wort nicht leichtsinnig ausgesprochen werden. Wie wunderbar ist also das Wort des Gesandten Allahs, wenn er folgendes sagt:
„Ein Muslim ist derjenige, vor dessen Zunge und Hand die Muslime sicher sind; und ein Auswanderer (Muhāǧir) ist der, der das verläßt, was Allah verboten hat.“[47]
Bibliografie
- Al-Buḫārī (Übers. Aḥmad b. Rassoul), Auszüge aus dem Ṣaḥīḥ al-Buẖāryy, o.O.
- Atay, Hüseyin, „Kurana göre münazara metodu“, in: Ayata, Halise Kader/Eren, Muhammet Emin/Özeler, Esra (Hg.), Ankara Üniversitesi İlahiyat Fakültesi Dergisi (1969), Bd. 17, S. 259-275.
- Bediüzzaman Said Nursi, Blitze, Ulm 2007.
- Çapak, İbrahim, “Saçaklızade’ye Göre Münazara İlmi”, in: I. Kahramanmaraş Sempozyumu (2005), o.O.
- Emiroğlu, İbrahim, „Cedel nedir“, in: D.E.Ü. İlâhiyat Fakültesi Dergisi (1999), Bd. 12, o.O., S. 17-37.
- ez-Zernûcî, Burhanuddin (Übers. Vehbi Yavuz), Tâ’lim’ül Müteallim, Bursa o.O.
- Gelenbevî, İsmail, (Übers. von Talha Alp), Tarstışma Usûlü, Istanbul 2011.
- Gölcük, Şerafeddin/Toprak, Süleyman, Kelâm, Istanbul 41998.
- İbn Haldun (Übers. Süleyman Uludağ), Mukaddime 2, Istanbul 92013
- Kılavuz Ulvi Murat/Kılavuz, Ahmet Saim, Kelâma giriş, Istanbul
- Wehr, Hans, Arabisches Wörterbuch für die deutsche Schriftsprache der Gegenwart, o.O.
- Yüksel, Emrullah, Sistematik kelâm, Istanbul 2015.
[1] Vgl. Burhanuddin ez-Zernûcî (Übers. Vehbi Yavuz), Tâ’lim’ül Müteallim, S. 105.
[2] Koran, 2/2: Dieses Buch, an dem es keinen Zweifel gibt, ist eine Rechtleitung für die Gottesfürchtigen;
[3] Koran: al-Ḥašr/21.
[4] Für detailliertere Informationen zu Gottesbeweisen islamischer Gelehrten, siehe: William Lane Craig, The kalām cosmological argument, London 1979, S. 19 ff.
[5] Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch für die deutsche Schriftsprache der Gegenwart, o. O., S. 169.
[6] Vgl. Hüseyin Atay, „Kurana göre münazara metodu“, in: Ayata, Halise Kader/Eren, Muhammet Emin/Özeler, Esra (Hg.), Ankara Üniversite-si İlahiyat Fakültesi Dergisi (1969), S. 261.
[7] Vgl. Al-Fārābī (Übers. von Ahmet Ateş), Îhsâ’ül-ulûm, Istanbul 31990, S. 80 ff.
[8] İbn Haldun (Übers. Süleyman Uludağ, Mukaddime 2, Istanbul 92013, S. 820.
[9] Klügelei, Wortklauberei, Spiegelfechterei, spitzfindiges Philosophieren [< grch. sophisteia »Kniff, Verschlagenheit«]; URL: http://www.wissen.de/fremdwort/sophisterei (Letzter Aufruf: 06.05.2016).
[10] URL: http://www.philosophie-woerterbuch.de/online-woerterbuch/?tx_gbwbphilosophie_main[entry]=832&tx_gbwbphilosophie_main[action]=show&tx_gbwbphilosophie_main[controller]=Lexicon&cHash=bee30ce0ce79024e6da57166452fdbf2 (Letzter Aufruf: 06.05.2016).
[11] Vgl. İbrahim Emiroğlu, „Cedel nedir“, in: D.E.Ü. İlâhiyat Fakültesi Dergisi (1999), S. 35.
[12] Koran 2/197; 4/109; 6/25; 7/71; 8/6; 11/32; 13/13; 16/125; 18/54; 22/46; 29/46; 31/20; 40/4,35,56,69; 42/35; 43/58.
[13] Al-Buḫārī (Übersetzt von ibn Rassoul), Auszüge aus dem Ṣaḥīḥ al-Buẖāryy, o. O., S. 589.
[14] URL: http://islamische-datenbank.de/option,com_riyad/action,search/?text=stolz (Letzter Aufruf: 28.04.2016)
[15] Koran 16/125.
[16] Koran 33/21; 68/4.
[17] Vgl. Hüseyin Atay, „Kurana göre münazara metodu“, in: Ayata, Halise Kader/Eren, Muhammet Emin/Özeler, Esra (Hg.), Ankara Üniversitesi İlahiyat Fakültesi Dergisi (1969), S. 270.
[18] Koran 36/79.
[19] Vgl. İbrahim Emiroğlu, „Cedel nedir“, in: D.E.Ü. İlâhiyat Fakültesi Dergisi (1999), S. 25.
[20] Eine Prämisse, die von beiden Diskussionspartnern nicht angzweifelt wird, da sie als wahr gilt.
[21] Vgl. İbrahim Emiroğlu, „Cedel nedir“, in: D.E.Ü. İlâhiyat Fakültesi Dergisi (1999), S. 29.
[22] Vgl. ebd., S. 18 ff.
[23] Vgl. Hüseyin Atay, „Kurana göre münazara metodu“, in: Ayata, Halise Kader/Eren, Muhammet Emin/Özeler, Esra (Hg.), Ankara Üniversitesi İlahiyat Fakültesi Dergisi (1969), S. 261.
[24] Vgl. ebd., S. 261.
[25] Kılavuz Ulvi Murat/Kılavuz, Ahmet Saim, Kelâma giriş, S. 13.
[26] Emrullah Yüksel, Sistematik kelâm, S. 16.
[27] Mit intentionaler Definition ist gemeint, was der Grund für die Betreibung dieser Wissenschaft ist.
[28] „Al-kalām huwa al-ʿilm bi al-ʿaqāʾid ad-dīnīya ʿan al-adilla al-yaqīnīya.“ Vgl. Gölcük, Şerafeddin/Toprak, Süleyman, Kelâm, S.22.
[29] Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch für die deutsche Schriftsprache der Gegenwart, o. O., S. 1285.
[30] Ebd. S. 1287.
[31] Vgl. Hüseyin Atay, „Kurana göre münazara metodu“, in: Ayata, Halise Kader/Eren, Muhammet Emin/Özeler, Esra (Hg.), Ankara Üniversitesi İlahiyat Fakültesi Dergisi (1969), S. 262.
[32] Vgl. ebd. S. 262.
[33] Koran 21/22.
[34] Bediüzzamn Said Nursi, Blitze, S. 377.
[35] İbrahim Çapak, “Saçaklızade’ye Göre Münazara İlmi”, in: I. Kahramanmaraş Sempozyumu (2005), S. 89 ff.
[36] Um nur einige zu nennen: ʿAlī Riḍā Ardahānī – Miʿyāru l-munāẓarah; Aḥmad Ǧawdat Paša – Ādāb as-Sadād min ʿilmi l-ādāb; Ruknaddīn al-ʿĀmidī – Al-iršād fī ʿilmi l-ḫilāf wa l-ǧadal; Sayyid Šarīf al-Ǧurǧānī – Uṣūlu l-manṭiq wa l-munāẓarah; Ismāʿīl Ḥaqqi Bursawī – Šarḥ ʿalā Ādābi l-baḥṯ li-Taškoprīzāda.
[37] Vgl. İbrahim Emiroğlu, „Cedel nedir“, in: D.E.Ü. İlâhiyat Fakültesi Dergisi (1999), S. 35.
[38] Ebd. S. 35.
[39] Vgl. İbrahim Çapak, “Saçaklızade’ye Göre Münazara İlmi”, in: I. Kahramanmaraş Sempozyumu (2005), S. 89.
[40] Vgl. İsmail Gelenbevî (Übers. von Talha Alp), Tarstışma Usûlü, Istanbul 2011, S. 44.
[41] Vgl. ebd., S. 44 ff.; Vgl. İbrahim Emiroğlu, „Cedel nedir“, in: D.E.Ü. İlâhiyat Fakültesi Dergisi (1999), S. 35; Vgl. Hüseyin Atay, „Kurana göre münazara metodu“, in: Ayata, Halise Kader/Eren, Muhammet Emin/Özeler, Esra (Hg.), Ankara Üniversitesi İlahiyat Fakültesi Dergisi (1969), S. 267.
[42] Koran 2/28.
[43] Koran 2/258.
[44] Vgl. İsmail Gelenbevî (Übers. von Talha Alp), Tarstışma Usûlü, Istanbul 2011, S. 74.
[45] Der Vergleich mit dem Vogel, der auf dem Kopf ruht ist sehr berühmt. Er soll darstellen, dass derjenige, der so beschrieben wird, mit absoluter Konzentration und äußerste Penibilität am Werk ist.
[46] In Anlehnung an Yūnus Amra (gest. 1321): „Söz ola kese savaşı söz ola bitire başı…“ (Manches Wort beendet den Kampf, manch anderes jedoch führt zu Streit)
[47] Al-Buḫārī (Übersetzt von ibn Rassoul), Auszüge aus dem Ṣaḥīḥ al-Buẖāryy, o. O., S. 25.